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Aktuell

Pressemitteilung: Bingenheim/Bonn/Wien, 5. Juli 2023. Ein heute von der EU-Kommission veröffentlichter Vorschlag für eine neue EU-Gentechnikgesetzgebung sieht vor, dass ein Großteil der Pflanzen, die mit neuen gentechnischen Verfahren erzeugt werden (im EU-Jargon „neue genomische Techniken - NGT“ genannt), künftig nicht mehr unter dem geltenden EU-Gentechnikrecht reguliert werden sollen. Damit folgt der Vorschlag weitgehend den Interessen der Agrarindustrie. Die Pflanzenzüchter:innen und Saatguterzeuger:innen der Interessengemeinschaft für gentechnikfreie Saatgutarbeit (IG Saatgut) fordern die Bundesregierung und Europaabgeordneten auf, den Vorschlag der EU-Kommission komplett abzulehnen. Nur so können die Wahlfreiheit und das Vorsorgeprinzip umgesetzt bleiben sowie eine zukunftsfähige Pflanzenzüchtung sichergestellt werden.

„Der Vorschlag der EU-Kommission ist grundlegend verfehlt und muss komplett abgelehnt werden, denn sonst wären eine gentechnikfreie Züchtung und Saatgutarbeit, ob konventionell oder ökologisch, langfristig nicht mehr möglich“, kommentiert Stefi Clar, Saatgutgärtnerin in Witzenhausen und Vorstandsmitglied des Dreschflegel e.V.. „Zu rechnen ist mit einer Zunahme des Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen, die dann ohne jegliche Koexistenz-, Haftungs-, Transparenz- oder Monitoring-Auflagen unbeschränkt im Freiland wachsen würden. Deren Ernteprodukte könnten ungekennzeichnet vermarktet werden. Durch Auskreuzungen und Verunreinigungen würde dies perspektivisch zu einer Landwirtschaft führen, die in hohem Maße auf völlig intransparente, nicht rückverfolgbare Weise mit gentechnisch veränderten Organismen durchsetzt wäre. Die Wahlfreiheit, gentechnikfreies Saatgut und gentechnikfreie Lebensmittel erzeugen und konsumieren zu können, wäre nicht mehr gegeben.“

„Die Deregulierung von neuen Gentechnik-Pflanzen würde zu einer Flut von patentiertem Saatgut führen, das auf den europäischen Markt kommt, und zu einem ‚Patentdickicht‘, das für die meisten Pflanzenzüchter:innen und Saatguterzeuger:innen undurchschaubar wäre“, kritisiert Gebhard Rossmanith von der Bingenheimer Saatgut AG. „Dies würde den Zugang zu genetischem Material für Pflanzenzüchter:innen massiv behindern, obwohl der freie Zugang für die Entwicklung neuer Sorten unerlässlich ist. Zudem würden die großen Saatgutkonzerne ihre Marktmacht so weiter ausbauen können. Insbesondere kleinere und mittelständische Züchtungsunternehmen würden vom Markt verdrängt, obwohl gerade deren Innovationspotential zur Weiterentwicklung der Kulturpflanzenvielfalt in Zeiten der Klima- und Biodiversitätskrise dringend gefragt ist.“

„Die vorgeschlagene Deregulierung muss gestoppt werden, denn sie gefährdet genau jene Ansätze von Züchtung, Saatguterzeugung und Landwirtschaft in ihrer Existenz, die wir zur Lösung der Biodiversitäts- und Klimakrisen dringend benötigen“, ergänzt Gebhard Rossmanith. „Die genetische und biologische Vielfalt, die wir für agrarökologische, systemische Ansätze von Züchtung und Landwirtschaft brauchen, ist durch die geplante Deregulierung der neuen Gentechnik bedroht.“

Die Interessengemeinschaft für gentechnikfreie Saatgutarbeit (IG Saatgut) vertritt Unternehmen und Organisationen aus der ökologischen Züchtung, der bäuerlichen Saatgutarbeit, der ökologischen Saatguterzeugung und dem Saatguthandel sowie Erhaltungsinitiativen. Sie sind in Deutschland, Österreich und der Schweiz ansässig.

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Hintergrund

Mit einem Grundsatzurteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 25. Juli 2018 entschieden, dass neue gentechnische Verfahren wie CRISPR-Cas unter dem europäischen Gentechnikrecht zu regulieren sind. Der heutige Vorschlag der EU-Kommission widerspricht den zentralen Aspekten dieser Rechtsprechung.

Gentechnisch veränderte Pflanzen, die angeblich „gleichwertig“ zu konventionellen Pflanzen sein sollen (so genannte Pflanzen der „Kategorie 1“), könnten danach künftig ohne Zulassungsverfahren und damit ohne Risikoprüfung auf Äcker und Märkte kommen. Bis auf eine Kennzeichnung beim Saatgut wären für „Kategorie-1-Pflanzen“ entlang der Wertschöpfungskette und für die Endkonsument:innen keinerlei Regeln zur Rückverfolgbarkeit oder Kennzeichnung vorgeschrieben. Zudem gäbe es für diese keine rechtlich verankerten „Koexistenz“-Auflagen für die Anbauer:innen von Gentechnik-Pflanzen mehr wie z. B. Abstandsregeln. Jegliche gesetzlichen Vorsorgepflichten zum Schutz vor Einkreuzungen oder Vermischungen sowie die Pflicht, Transparenz über Gentechnik-Anbauflächen zu schaffen, würden entfallen. Unternehmen, welche diese neuen Gentechnik-Pflanzen auf den Markt bringen möchten, müssten keine Nachweisverfahren für ihre Produkte mehr vorlegen.

Die Kriterien für die Einstufung von neuen Gentechnik-Pflanzen als angeblich „gleichwertig“ zu konventionellen Pflanzen sind sehr breit, willkürlich festgelegt und wissenschaftlich unhaltbar. Sie widersprechen dem EU-rechtlich verankerten Vorsorgeprinzip. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der künftigen, mit neuen gentechnischen Verfahren erzeugten Pflanzen in diese Kategorie fallen würde. 

Im Gegensatz zur konventionellen Pflanzenzucht sind sowohl die Verfahren als auch die Produkte der neuen gentechnischen Verfahren nach EU-Recht patentierbar (EU-Biotechnologie-Richtlinie 98/44). Espacenet, die Datenbank des Europäischen Patentamts, listet rund 700 Patentanmeldungen allein für "Crispr-Cas9 und Pflanzen" auf. Auf internationaler Ebene wurden über 20.000 Patentanmeldungen eingereicht, die sich auf den Begriff "Crispr-Cas9-Pflanze" beziehen. Die Patentanmeldungen beziehen sich in der Regel sowohl auf das spezifische technische Verfahren als auch auf die spezifischen Eigenschaften, die sich aus dem Verfahren ergeben. Der Umfang der Patentansprüche ist oft sehr weit gefasst. Die Patente beanspruchen in der Regel alle Pflanzen mit dem spezifizierten Merkmal, unabhängig davon, wie die Pflanzen gezüchtet wurden – auf diese Weise kann der Geltungsbereich der Patente auch für konventionell gezüchtete Pflanzen und bäuerliches, lokales und traditionelles Saatgut gelten, obwohl diese nach EU-Recht nicht patentierbar sind. Derartige Patente erstrecken sich darüber hinaus auch auf die Ernte und die Lebensmittel, die das beanspruchte Merkmal enthalten. Mehr Informationen zu Patenten und neuer Gentechnik finden Sie in diesem Hintergrundbericht.

Im Zuge des EU-Gesetzgebungsprozesses müssen nun das Europäische Parlament und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten im Ministerrat zu dem Vorschlag der EU-Kommission Stellung nehmen.

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